Glühende Leidenschaft

Ein paar schnelle Handgriffe. Geheimnisvolles Murmeln. Steigende Spannung. Schließlich eine dünne Fahne weißen Rauches. Dann ein donnernder Klang. Erleichterung.
Nein, hier ist von keiner Papstwahl, keinem Konklave die Rede. Dieses findet bekanntlich in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans statt. Wir aber sind auf einem Hof in Zubzow auf Rügen, nur ein paar Kilometer von der Schatzinsel Öhe entfernt. Was wir gerade erlebt haben, war der rund 10 Minuten dauernde Start eines Ursus C 45. Das sagt Ihnen nichts? Bitte, hier die Erklärung: Nach dem Lanz Bulldog gilt der Ursus Experten als Papst unter antiken Traktoren, ein höheres Wesen auf vier Rädern, das Bewunderung fordert und Ehrfurcht weckt. René Kenzler ist ein solcher Experte. Gerade hat er gemeinsam mit seiner Frau Jeannette und Sohn Oliver seinen Ursus 45, 1 Zylinder, 45 PS, aus dem Winterschlaf geweckt.
Vorglühen ganz ohne Alkohol

Da die eiserne Eminenz ein Traktor mit Glühkopfzündung ist, hat sein Start etwas fast Rituelles. Wir verschonen Sie an dieser Stelle mit den faszinierenden Finessen eines Glühkopf-Motors, der, anders als moderne Antriebe, ein Allesfresser ist und als sogenannter Vielstoff-Motor mit Diesel, Schwer- oder Pflanzenöl, Tran oder Paraffin gefüttert werden kann. Nur so viel: Um den Einzylinder-Zweitakt-Motor der 76 Jahre alten Schönheit in Gang zu bringen, muss der Glühkopf an der Glühnase mit einer Lötlampe vorgeglüht werden (ein Begriff, den Jüngere allenfalls von Partys kennen), bis wie bei der Papstwahl weißer Rauch aufsteigt. Während Kardinäle mitunter Tage brauchen, reichen René Kenzler 5 bis 10 Minuten. Zeit genug, um mit ihm einen kurzen Trip in die Traktor- und Zeit-Geschichte zu machen. Bei der René so packend erzählt, dass selbst Trecker-Muffel sofort anspringen.
„Guck mal!“, sagt René und deutet mit einer Mischung aus Witz und Stolz auf das blinkende Typenschild des Ursus. „1575“ steht da (die Fahrgestell-Nummer) und: „1948“ – das ist nicht der Hubraum, sondern das Baujahr. Gebaut wurde Kenzlers Ursus also 1948 in Polen. In dem 1893 im Warschauer Stadtteil Ursus gegründeten Werk fertigten Fachleute schon seit 1922 Schlepper in Serie. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, wurde das Werk nach 1945 als moderne Traktoren-Schmiede wieder aufgebaut – wobei Zufall, Tragik und Nachwirkungen des Krieges halfen. René: „Die deutsche Firma Lanz hatte vor dem Krieg kräftig nach Russland und Polen exportiert. Nach dem Krieg wurden Teile ihrer Unterlagen in Polen beschlagnahmt und alle möglichen Ersatzteile gesammelt.“ So machten die Ursus-Werker aus der Not eine Tugend und bauten ab 1947 den kompletten Lanz D 9506 als Ursus C 45 nach – lizenzfrei und so perfekt, dass Teile von Lanz und Ursus problemlos untereinander getauscht werden konnten.
Der Nachbau war ein robuster Renner, der auf östlichen Äckern und Wegen unermüdlich Pflüge, Eggen und Wagen schleppte und fast nie schlapp machte. Bis 1965 sollen vom Ursus C 45 und seinem Nachfolger C 451 rund 60.000 Exemplare gebaut worden sein. Nur im „Westen“ war der Ursus nicht zu haben, Teile wurden allenfalls „auf dunklen Wegen“ geschmuggelt, so René Kenzler. Doch bevor eine Nachfrage Licht in dieses Dunkel bringen kann, verkündet weißer Rauch: Der Ursus ist startbereit. Jeannette und Sohn Oliver sitzen bereits hinterm Lenkrad, bereit für einen Ausflug durch die Allee, Richtung Acker. Denn bei Kenzlers ist Trecker-Leidenschaft Familien-Glück.
"Er hat ein Schrauber-Herz“
Dieses Glück begann 1998 ausgerechnet in einer Kneipe. Jeannette, 1977 in Greifswald geboren, in Stralsund aufgewachsen, gelernte Bürokauffrau kellnerte damals im Trenter „Albatros“, wo René gelegentlich einkehrte. Vorglühen mussten die beiden nicht lange, beim samstäglichen Tanz drehte sich schnell alles um alte Technik. Jeannette: „Mir war gleich klar: Der hat ein Schrauber-Herz.“ Der Satz bringt Renés Persönlichkeit perfekt auf den Punkt. 1979 auf Rügen geboren, lernt er zunächst Maurer und arbeitet viele Jahre, u.a. in Holland, in diesem Beruf. Doch Motoren fesseln ihn mehr als Mörtel. So schraubt und schweißt er schon als Jugendlicher an Mopeds – seine Eltern haben keinen Auto-Führerschein – und Traktoren, nimmt Getriebe ausein- ander, bringt alte Ackergeräte auf Vordermann – bis heute. Große Worte macht er dabei nicht, aber wer mit ihm über seinen Zetor, den Belarus, den alten Leiterpflug oder die Dekawe NZ (ein während des Zweiten Weltkrieges im sächsischen Zschopau gebautes Zweitakter-Motorrad, das er gerade restauriert) ins Gespräch kommt, erlebt einen Mann, für den alte Technik nicht Zeitvertreib, sondern Leidenschaft ist.
Der Reiz dieser Leidenschaft liegt im Restaurieren, nicht im Besitz. Nie würde sich René Kenzler ein fertig restauriertes Schmuckstück auf den Hof holen, um damit zu glänzen. Nicht nur, weil solche alten Schätzchen so üppige Preise haben wie neue Mittelklasse-Wagen. René möchte lieber ein Stück eiserner Zeitgeschichte in die Hände bekommen und mit Geduld, Geschick und Wissen zu neuem Leben erwecken. Dabei darf das Restaurations-Objekt gern Ruine sein. Jeannette: „Der Ursus war ein Häufchen Elend, als er zu uns kam.“ Fündig werden Kenzlers in Scheunen, bei Bekannten und gelegentlich im Internet – genauer werden die beiden an dieser Stelle nicht. „Man kennt sich untereinander, vieles ist Mundpropaganda“, sagt René, der oft viele Monate schraubt, schrubbt und schweißt, bis ein solches Fundstück in möglichst originalem Glanz strahlt. Die Freude an diesem Prozess teilt René nicht nur mit seiner Frau und den Söhnen Oliver (6) und Phillipp (24), sondern auch mit Verwandten, Nachbarn, Freunden.

Der Verein lässt es krachen
Gemeinsam haben sie den Verein Alttechnik-Trent e.V. gegründet (Motto: “Wenn’s auf dem Acker knattert und kracht, hat jemand den Oldtimer angemacht.“)
Im Herbst jeden Jahres treffen sich die Mitglieder mit ihren Familien, mit Freunden und Nachbarn zum Alttraktoren-Pflügen auf Rügen. Dann zeigen die alten Deutz, Zetor, Belarus, Pioneer, McCormick und natürlich der Ursus, was in ihnen steckt – und wie einst Landwirtschaft funktionierte. Sie hinterlassen mit ihren historischen Ein-, Zwei- und Dreischar-Pflügen nicht nur schnurgerade Furchen auf dem Acker, sondern auch glückliche Gesichter bei den Besuchern. Die Alten nicken: „Ja, so war das!“ und die Jungen wundern sich: „So war das?“ Alle erleben im nostalgischen Geknatter der alten Motoren (nicht nur beim jährlichen Alttraktoren-Pflügen, auch bei gemeinsamen Ausfahrten oder Auftritten etwa beim jährlichen Fisch- und Wollmarkt) ein Stück Technik- und Zeitgeschichte Es verbindet nicht nur die rund zehn Mitglieder des Vereins, sondern mehrere Generationen einer ganzen Region.
Mit lockerer Handbremse durchs Leben

Dass das Thema Technik auch Jeannette und René zusammenschweißt, verblüfft. Die beiden arbeiten Hand in Hand. Auch wenn vor allem René in der Werkstatt steht, Jeannette wünscht sich längst einen eigenen Trecker. Oder wenigstens einen Barkas B 1000, einen ab 1961 in der DDR gebauten Kleintransporter, für Familienausflüge. Warum? Jeannette: „Das Tolle an der alten Technik ist, dass wir alles selbst reparieren können.“ Hochgezogene Augen- brauen über die vielen einsamen Schrauber-Stunden in der Werkstatt? Fehlanzeige. Auch wenn Jeannette mit leisem Stöhnen sagt: „René hat mir schon vor zehn Jahren versprochen, dass keine neuen Trecker auf den Hof kommen. Aber nix da.“ – die beiden sind ein eingespieltes Team, das nicht mit angezogener Handbremse durchs Leben fährt.
Leicht war das nicht immer – etwa nachdem sie im Frühjahr 2000 in Zubzow ein uraltes, mit Salpeter verseuchtes Haus gekauft und bezogen hatten, das sie fast ein Jahrzehnt lang kernsanierten. Während René in Holland auf Montage schuftete und nur an den Wochenenden zuhause zupacken konnte, stand Jeannette wochentags mit Haus und Hof, dem kleinen Sohn, ihrem Job in einem Versicherungsbüro und aller Arbeit allein da. René gibt zu: „Das war hart.“ Trockener Kommentar von Jeannette: „Hat uns aber noch mehr zusammengeschweißt.“ Wenn man die beiden fragt, was für sie Glück ist, kommt eine ebenso knappe wie überraschende Antwort, in der Hubräume, Drehzahlen, Kurbelwellen keinen Platz haben: „Glück? Das ist Kinderlachen.“
Teil des Schatzinsel-Teams
Dass Jeannettes und Renés jüngster Sohn gelegentlich gemeinsam mit den Kindern von Nicolle und Mathias Schilling lacht, ist kein nachbarschaftlicher Zufall. Seit rund zehn Jahren sind Jeannette und René Teil des Schatzinsel-Teams. Ohne Menschen wie sie, ohne ihr Engagement und ihre Leidenschaft, würden die Räder eines so innovativen und vielseitigen Familien-Unternehmens kaum rund laufen. Die Arbeitsteilung ist klar: Sie drinnen, er draußen. Während Renés Arbeitstage zwischen Stall und Weide, zwischen Zaunbau und Verladen, zwischen Baustellen und Werkstatt morgens um 7 beginnen und prall gefüllt sind, laufen in Jeannettes Büro ab 8 Uhr zahllose Fäden zusammen.
Hier stapeln sich Bestellungen, Statistiken, Buchungs-Anfragen und Abrechnungen, Handys summen, Rechner brummen.
Versagt irgendwo das Internet, macht ein Drucker schlapp, müssen Speisekarten geschrieben, Produkte ins Kassensystem eingepflegt, Ferienwohnungen gereinigt, Lieferanten kontaktiert oder neue Projekte an den Start
gebracht werden – Jeannette die auch ein Buchhalter-Fernstudium absolvierte, kümmert sich. Je kniffliger die Aufgaben, desto größer ihr Spaß – und fällt im Gasthof eine Bedienung aus, springt Jeannette ohne langes Vorglühen ein. Vor allem mit Nicolle Schilling arbeitet sie täglich Hand in Hand, was auch deshalb gut klappt, weil bei Schillings die Hierarchien so flach sind wie die Wiesen der Insel Öhe. „Nur zwei Dinge gibt es bei uns nicht“, sagt Jeannette, „langweilige Routine – und das Wort Nein.“
