Weiß wie Gischt, verfressen wie Kreuzfahrtpassagiere

Ein bezauberndes Buch über Möwen – Insel Hiddensee

Zu sehen ist das Bild von Giovanni Segantini (1858 - 1899) mit dem Titel Meerjungfrau mit Möwen (um 1890). Eine nackte Frau in den Wellen greift nach Möwen, die um sie herum fliegen.

„In jeder Möwe haust die Seele eines toten Seemanns.“, sagte mein Maschinist Konny Rux und nahm mir die schwere Sechskantmutter aus der Hand, mit der ich nach der Silbermöwe werfen wollte, die sich krakeelend auf unserer Räuchertonne niedergelassen hatte. Wir waren mit dem 26,5 Meter-Fischkutter SAS Vikingbank des Fischkombinats Sassnitz auf Heimreise aus der Nordsee und räucherten in einem aufgefischten Ölfass Aale und Lachse, die an Schweißdraht über Buchenholzrauch hingen. Konny Rux war ein ebenso umsichtiger wie erfahrener Maschinist und was ich auf dieser Fangreise über den Kutter, die Maschine und die Fischerei gelernt hatte, das verdankte ich ihm. 

Im Rostocker Fischkombinat war ich für große Frosttrawler ausgebildet worden und hatte weder von den Maschinen eines Sechsundzwanzigers noch von seinem Fischereigeschirr die leiseste Ahnung. Konny hatte mir beigebracht, wie man auf die Geräusche des alten Buckau-Wolf-Diesels hören musste, wie man eine Netzwinde fuhr und einen vollen Steert an Deck hievte, wie man Dorsche und Makrelen schlachtete und in das Eis des Fischbunkers staute. Dass er aber auch Seemannsaberglauben anhing, wunderte mich. Nachdem er unter Deck in den Maschinenraum gegangen war, bezog ich meinen Posten an der Räuchertonne mit einem Decksschrubber. Denn wenn eine Seemannsseele in dieser Möwe hauste, dann wusste sie, wie Räucheraal schmeckt und würde sich nicht von ein bisschen Geschrei verjagen lassen. 

Die Heimreise im Herbst 1978 gehörte zum Schönsten, was ich an Bord der Vikingbank erlebt habe. Wir hatten den Kutter in der Nordsee in drei Wochen vollgefischt, einen Sturm vor Norwegen abgewettert und waren von keinem Übernahmeschiff um unseren Fang erleichtert worden. Das hätte weitere drei Wochen auf See in Fisch und Eis bedeutet und schlechte Laune bei der ganzen Besatzung. Vor uns lagen Freizeit und Fangprämie, ein Wiedersehen mit Frauen und Freundinnen, Tanz und Schnaps im Sassnitzer Seemannsheim und die Freude, die der Räucherfisch bei unseren Familien auslösen würde. Mit dieser Aussicht konnte ich mir den Luxus leisten, bei einem Kaffee auf dem Brückendeck über Konnys merkwürdigen Satz nachzudenken. Diese Stunde, in der ich mit Blick achteraus auf die ruhige See und die Möwen, die unserem Kutter folgten, an Deck saß und über Seelenwanderung grübelte, ist mir heute noch so gegenwärtig wie vor fünfundvierzig Jahren. Es war meine erste Meditation, ohne dass ich damals etwas über Buddhismus gelesen hatte. Aber das Gefühl, plötzlich eins mit der See und der sich nähernden Küste, mit den Möwen und Fischen, ja selbst mit dem alten Kutter und seiner wortkargen Besatzung zu sein, ist mir unvergesslich geblieben. 

Heute erinnert es mich an den Begriff der Versenkung, der auf See nicht ohne Doppeldeutigkeit ist. Mich hatte die Lust gepackt, dieser Sache auf den Grund zu gehen, und erst Jahre später las ich bei Walter Benjamin über die Doppeldeutigkeit auch dieses Begriffs. „Zugrunde zu gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge gelangen.“, schreibt Benjamin in seinem Kommentar zu Brechts Fatzer-Fragment. Auf dem Meeresgrund, so ein anderer seemännischer Aberglauben, stehen die Ertrunkenen aufrecht. Vielleicht kommt daher der Wunsch, dass ihre Seelen sich aus diesem nassen Grab erheben und mit den Möwen in den Himmel über der See aufsteigen können.

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Seeleute sind seit Anbeginn der Seefahrtsgeschichte abergläubisch gewesen. Auch auf Rügen war Spökenkiekerei zu meiner Fahrenszeit trotz aller Lehrgänge über historischen Materialismus und wissenschaftlichen Sozialismus weit verbreitet. 

Während ich über die Worte meines Maschinisten nachdachte, fiel mir eine Spukgeschichte ein, die mir meine Großtante eines Abends in Buddenhagen erzählt hatte. Eine Sassnitzer Seemannsfrau war mitten in der Nacht von Möwenschreien wach geworden. Kurz darauf hörte sie ein Pochen und Rütteln an der Haustür. Dann schlurften schwere Schritte durch den Flur und die Treppen herauf. Die Tür zur Schlafkammer öffnete sich und ein Seemann in nassem Ölzeug trat an das Fußende ihres Bettes. Starr vor Schreck konnte sie kein Wort herausbringen. Die dunkle Gestalt verharrte eine Weile schweigend und stampfte dann wieder die Treppen hinab. Als die Haustür sich öffnete, waren noch einmal die schrillen Schreie der Möwen zu hören. 

Als die Frau am anderen Morgen erwachte, hielt sie die Erscheinung für einen Traum. Doch zu ihrem Erschrecken fand sie beim Aufstehen nasse Stiefelspuren auf der Treppe und im Flur. Wenig später kam die Nachricht, dass das Boot ihres Mannes im Sturm vor Rügen gesunken und alle Männer der Besatzung ertrunken waren. 

Diese Geschichte, an die ich lange Zeit nicht mehr gedacht hatte, schien mir eine sagenhafte Bestätigung von Konny Rux´ Bemerkung über die Wanderung von Seemannsseelen zu sein. Die Schreie der Möwen über Sturm und Brandung waren vielleicht das Letzte gewesen, was die ertrinkenden Seeleute gehört hatten. 

Was war zuerst da, der Schrei der Möwe oder die Seele, erdacht am kalten Morgen als sie schrie? fragt der irische Dichter Seamus Heaney. Auch an den Küsten Irlands galten die Möwen seit Jahrhunderten als Seevögel mit Seemanns-Seelen. Wenn in der Silbermöwe auf der Räuchertonne die Seele eines toten Seemanns hauste – krakeelte sie dann deshalb so höhnisch, weil sie wusste, dass auch meine Seele eines Tages Zuflucht in einer ihrer Artgenossinnen suchen würde? 

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das Buchcover von Möwen – Ein Porträt von Holger Teschke aus dem Naturkundenverlag. Das Cover ist blau mit zwei gezeichneten Möwen darauf.

Würde ich mit ihr zu jenen Häfen und Küsten fliegen, von denen ich jetzt nur träumen konnte – nach London und New York, nach Rio de Janeiro und Valparaiso, nach Neuseeland und zu den Inselwelten Ozeaniens ? Was würde ich dann von einem gedankenlosen Maschinisten halten, der mich mit einer Mutter erschlagen wollte, nur weil ich meinen Anteil vom Fang verlangte ? Und was würde aus meiner Seemannsseele, wenn die Möwe eines Tages sterben sollte? 

Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich mit meinem Kaffee an der warmen Räuchertonne lehnte, Buchenscheite nachlegte und darauf wartete, dass Kap Arkona in Sicht kam. In meinem Heimathafen Sassnitz auf Rügen bin ich mit Möwen aufgewachsen. Sie gehörten zur Stadt wie andernorts Tauben und Krähen. Schon am frühen Morgen weckten mich ihre lärmenden Rufe vom Dach meines Elternhauses. Tagsüber sah ich sie an den Fenstern unserer Schule vorbei über den Himmel und die See jagen. Sie lauerten im Hafen und an der Mole auf heimkehrende Fischer und ahnungslose Urlauber. Sie begleiteten die Fischereikutter ebenso wie Ausflugsdampfer und Fähren, die nach Hiddensee oder Schweden fuhren. Wir schauten den Möwen und den Schiffen nach und wussten, dass auch wir eines Tages zur See und an jene Küsten fahren würden, zu denen die Möwen ungehindert zogen. Nun war ich Seemann geworden und dachte bei Kaffee und Cabinet über Seelenwanderung nach. Hausten nur die Seelen jener Seeleute in den Möwen, die auf See geblieben waren und kein Begräbnis an Land bekommen hatten ? Oder gab es für alle Seeleute ein letztes Logis in einer Möwe? Hatte ich noch Anspruch darauf, wenn ich von der Vikingbank abgemustert und wieder zur Landratte geworden war? 

Leider habe ich Konny all diese Fragen nicht gefragt. Heute kann ich es nicht mehr, denn er ruht inzwischen längst auf dem alten Sassnitzer Friedhof. Aber ich muss immer an ihn denken, wenn ich irgendwo auf der Welt Möwen sehe.

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